Das Zurückgewinnen von Selbstliebe und Lebendigkeit mit Hilfe einer potenzialentfaltende Beziehungskultur

Daniel Hunziker, April 2105

 

»Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst«, heisst es in der Bibel. Ein indischer Guru hat diesem Bibelzitat hinzugefügt: »Bitte tu das deinem Nächsten nicht an, was hat er dir denn getan?«

 

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Schwierigkeit anderen Menschen von Subjekt zu Subjekt zu begegnen, vor allem deshalb besteht, dass wir uns selber als Objekt behandeln. Das tun wir immer dann, wenn wir uns selber mit unseren eigenen Impulse verleugnen, um anderen zu gefallen und es anderen Recht machen wollen, um geliebt zu werden. Wir fühlen uns abhängig vom Nicken der anderen und sind dafür bereit, uns selber zu Objekten zu degradieren, welche diesem Gefallen-wollen dienen. Nur, wie soll es uns so gelingen, andere Menschen als Subjekt wahrzunehmen und ihnen auf Augenhöhe empathisch zu begegnen, wenn wir nicht über das Instrumentarium verfügen, uns und unsere Empfindungen und Impulse selber wahrzunehmen und - ganz wichtig - unseren Wahrnehmungsapparat in Resonanz mit dem Ausdruck anderen Menschen zu bringen?

 

Kinder kommen so nicht auf die Welt. Sie nehmen ihre Bedürfnisse und Impulse noch direkt wahr und können sie ungezwungen ausdrücken. Sie tun das mit ihrem ganzen Körper und bringen dadurch ihre ganze Lebendigkeit zum Ausdruck. Beginnt in einem Geburtshaus ein Baby zu weinen, weinen auf einmal die anderen Babys auch, begeistert sich in einer Spielgruppe ein Kind für eine Tätigkeit, lassen sich die anderen Kinder von ihm mitreißen - sie sind sozusagen noch in der Lage, sich vom Ausdruck anderer Menschen beeindrucken zu lassen und sich mit dessen Emotionen (das, was sich herausbewegt) in Schwingung, in Resonanz zu versetzen. Was führt uns denn bis ins Erwachsenenalter von diesen Fähigkeiten weg?

 

Kinder sind von der Liebe und Zuwendung ihrer Bezugspersonen abhängig. Sie sind darauf angewiesen, dass es diesen gut geht, damit sie für sie sorgen können. Aus diesem Grund müssen sie Alles tun, was dazu dient, dass ihre Bezugspersonen mit ihnen zufrieden sind. Wenn diese Bezugspersonen nun selber von eigenen Impulsen und Gefühlen abgespalten sind, werden sie auf emotionale Ausdrucksformen mit Ablehnung oder sogar Zorn reagieren, wenn Kinder diese ausdrücken - sie kommen sozusagen in Resonanz mit Gefühlen, zu denen sie selber eine negative Erfahrung assoziieren und ihre Kinder deshalb ablehnen müssen. Oft können Erwachsene nicht einmal mehr das Resonieren dieser Gefühle bei sich wahrnehmen. Sie haben stattdessen diese Negativgefühle in Form von Normen und Glaubenssätzen vergeistigt und reagieren dann nicht mehr emotional auf ihre Kinder, sondern moralisierend und belehrend: »Das tut man nicht!«, »Benimmt dich!« und so weiter. Ein emotionaler Ausbruch ist für ein Kind eine ausreichend schlimmer Ablehnungserfahrung seines Soseins - aber immerhin noch eine emotionale Beziehungserfahrung. Die Reduktion auf normierte Benimmregeln, markiert jedoch ein weitaus höheres Mass an Unverbundenheit zu seiner geliebten Bezugsperson. Es beginnt, sich selber falsch zu finden und spaltet seinerseits die unerwünschte Emotionen ab. Sein Empfindungs- und Resonanzvermögen sinkt, seine von den Bezugspersonen übernommenen Glaubensmuster beginnen sich zu reproduzieren.

 

Die meisten Kinder kommen derart geprägt in die Schule. Dort geht es in der Regel gleich weiter: Nicht mehr ihre Ideen und Impulse sind gefragt, sondern die Anforderungen des Lehrplans und die Abhängigkeit von Lehrpersonen, welche genaue Vorstellungen haben, wie gute Schülerinnen und Schüler zu sein haben. All dies veranlasst die Kinder, ihre Aussenorientierung weiter auszubauen. Wenn sie das gut schaffen, dann werden sie geliebt und sind sich sicher, dass ihre Bezugspersonen, von denen sie abhängig sind, ihnen weiter »positiv« zugewandt sind und für sie sorgen werden. Wenn dann doch ein letzter Keim an Eigensinn, an eigenem Empfinden und eigenen Impulsen übrig ist, dann brechen Belohnungs- und Bestrafungssysteme auch noch die letzte Kraft, eigenwillig zu sein. Das Endprodukt sind Menschen, die angepasst sind, eigene Impulse verloren haben, Gefühle abgespalten haben und gelernt haben, dass sie dann besonders geliebt und erfolgreich sind, wenn sie das tun, was andere von ihnen erwarten.

Schule, so wie sie seit 150 Jahren funktioniert, schafft sogar noch eine Steigerung, die Außenorientierung, respektive das Aufgeben eigenen Denkens und Fühlens zu kultivieren. Durch ihr Bedürfnis, alles bewerten zu wollen, muss sie darauf hinarbeiten, dass es auf vorgefertigte Fragestellungen nur eine einzig richtige Antwort gibt. Aufgaben müssen so gestellt werden. Denn nur so kann man eine Antwort als richtig oder falsch bewerten und Noten daraus generieren. Nur, was gibt es da für Schülerinnen und Schüler noch selber zu überlegen und zu entdecken? Wo können Kinder dabei mit eigenen Ideen und Überlegungen noch kreativ sein? Es sind erstens nicht ihre eigenen Fragen und eine eigene Antwort zu finden ist ebenfalls nicht gefragt, denn die einzig richtige Antwort ist ja bereits vorgegeben. Sie zu finden, macht sie zu erfolgreichen Schülerinnen und Schülern und bei ihren Lehrpersonen und Eltern beliebt.

 

So wie Erziehung und Schule im 21. Jahrhundert nach wie vor funktionieren, wird das Empfindungsvermögen, die Fähigkeit mit anderen Menschen in Resonanz zu treten, Empathie für andere zu empfinden und eigenständig und kreativ denken zu können, massiv untergraben. Kinder, die dieses »Spiel« besonders erfolgreich mitzuspielen im Stande sind, schaffen gute Schulabschlüsse, weil sie den Erwartungen ihrer Eltern und Lehrern besonders gut entsprechen können. Zu dieser Kategorie gehören zumeist Lehrpersonen, welche als Kinder und Schüler besonders erfolgreich waren. Und hierbei sind wir nun bei der Reproduktion dieser Passivitäts-, resp. nach Außenorientierungsprägung im Schulbereich angelangt. Die meisten Lehrpersonen mussten als Kinder enorm gut gewesen sein, wenn es darum ging, äußere Erwartungen zu erfüllen und ihre eigenen Impulse zurückzustellen oder die einzig richtige Lösung auf eine gestellte Frage zu finden. Wenn ihnen nun Kinder begegnen, welche eigenwillig, kreativ und fähig sind, alle möglichen Gefühle zum Ausdruck zu bringen, bringt sie das in Resonanz mit ihren längst verlorenen und mit Schmerz besetzten Gefühlen. In aller Regel schützen die Lehrpersonen ihren Schmerz, in dem sie das Kind verurteilen und es dazu zwingen, sich seinen Vorstellungen anzupassen. Meist wird dies dann auch noch zum Besten für das Kind verkauft. Kinder fühlen sich dann in ihrem Schmerz, nicht gesehen, nicht verstanden und elend alleine. Da sie keinen Ausweg aus der Abhängigkeit von ihren Lehrpersonen finden, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich selber zu verleugnen und das zu tun, was von ihnen verlangt wird.

Die Frage drängt sich auf, ob es denn anders geht? Womöglich hilft es auch sich zu fragen, ob es schon einmal anders war?

 

Matriarchale vs. patriarchalische Gesellschaftskulturen

Ich habe zwei Thesen gefunden, welche matriarchale Kulturen als potenzialentfaltende Gemeinschaftskulturen sehen und belegen sollen, dass es solche Kulturen vor 6000 Jahren auf unserer Erde schon einmal gegeben haben soll. Beide Thesen besagen, dass es zur damaligen Zeit zu einem Wechsel von matriarchalen zu patriarchalischen Gesellschaftskulturen kam.

 

Eine Theorie stammt von Friedrich Engels: Danach soll der Uebergang zum Patriarchat aufgrund der zunehmenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Arbeitsproduktivität erfolgt sein, die durch Einführung des Ackerbaus, der Viehzucht und der Metallverarbeitung zustande kam. Weil jetzt erstmals ein gesellschaftliches Mehrprodukt erzeugt werden konnte, kam es zur verstärkten Anhäufung von Privatbesitz und damit hatten die Männer einen Anreiz, diesen ausschliesslich an ihre leiblichen Nachkommen zu vererben. Damit wurde für sie die Feststellung der biologischen Vaterschaft wichtiger. Deshalb musste aus ihrer Sicht die Sexualität der Frauen eingeschränkt und kontrolliert werden. Auch durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die den Männern prestigereiche Tätigkeiten im Zusammenhang mit Viehzucht und Ackerbau zuwies, wurde ihre Position gestärkt.

Eine andere Theorie ist die Saharasia-These von James DeMeo. Dazu schreibt Hannelore Vonier in »Entstehung und Ausbreitung des Patriarchats - die Saharasia-These«:

Patriarchale Kulturen treten weder überall noch zufällig auf. Das Kerngebiet ist die Alte Welt - die Kulturen Ozeaniens und der Neuen Welt waren weit weniger patriarchal, bzw. erst später. Der extremste Patrismus ist in einem zusammenhängenden Verband anzutreffen, ausgehend von Nordafrika über den Nahen (Mittleren) Osten bis nach Zentralasien. Genau in diesem geografischen Raum sind heute die extremsten und ausgedehntesten Wüstengebiete der Erde zu finden.

 

James DeMeo, ein amerikanischer Geograf, bezeichnet diesen Raum mit den extremen klimatischen und kulturellen Bedingungen „Saharasia“ (=Sahara/Arabia/Asia). Hannelore Vonier weiter:

Das Klima änderte sich vor etwa 7000 Jahren. Fruchtbare Gebiete trockneten aus (Sahara, asiatische Wüsten), die ansässigen Menschen hatten Nahrungsknappheit bis zu extremsten Hungerkatastrophen. Wie aus heutigen afrikanischen Regionen bekannt, sterben zuerst Alte und Kranke, dann Kinder, dann Frauen. Männer, vor allem junge krätige Männer überleben am längsten, bilden Banden (schon vorher, zur Nahrungsbeschaffung) und ziehen zu Raubzügen aus und beginnen zu wandern (Völkerwanderungen). Dabei findet eine Charakterveränderung statt: das (Ur-)vertrauen verschwindet, Angst und Unsicherheit entstehen, die Mann-Frau- so wie die Mutter-Kind-Bindungen werden empfindlich gestört, die Kultur verfällt, geht verloren, weil sie nicht mehr überliefert wird. Die Folge ist: Erobern, rauben und töten, um zum Ueberleben. Europa wurde beispielsweise ab 4000 vor unserer Zeitrechnung von den sogenannten Streitaxt-Völkern, den Kurganen, Skythen, Sarmanten, Hunnen, Mongolen, Arabern und Türken überfallen.

 

Auswertungen von archäologischen Daten ergaben, dass Saharasia 4000 v.u.Z. eine zum Teil bewaldete Graslandsavanne war. Die heute ausgetrockneten Becken waren mit Wasser gefüllt, das zwischen zehn und hundert Metern tief war. Es existierte eine vielfältige Tierwelt. Diese Gegend ist heute sehr trocken und oft ohne jede Vegetation. Wie die Vöker in diesem Raum lebten, darüber geben archäologische Funde, wie z. B. Geräte und Höhlenmalereien, Aufschluss. Es steht nachweislich fest: Der Charakter dieser frühen Vöker war FRIEDVOLL, UNGEPANZERT und MATRIARCHAL. Es gibt aus dieser Zeit keine archäologischen Belege für Kriege, Chaos und Brutalität, die allerdings in jüngeren Schichten auftreten, nachdem die Trockenheit eingetreten war. Bei diesen Funden handelt es sich um Kriegswaffen, zerstörte Siedlungen, militärische Befestigungen, Tempel, Deformierung der Schädel von Säuglingen, Grabmale, die männlichen Herrschern gewidmet waren. Weiterhin die rituelle Ermordung von Frauen und Kindern, strenge soziale Hierarchie, Sklaverei, Prostitution und Konkubinat. Malereien, die Frauen und Kinder im Alltagsleben darstellen verschwinden und werden durch kriegerische Darstellungen wie Streitwagen, Schlachten, Krieger und Pferde, ersetzt. Hier sieht man deutlich die Bestätigung der Theorie, dass Wüstenbildung und Hungersnöte das matriarchale soziale Gefüge zerstören und das Patriarchat fördern. 

(Hannelore Vonier: http://matriarchat.info/herrschaft/saharasia-these.html)

 

Der Ethnologe Bronislaw Malinowski (1884–1942) zeigt in seinem Hauptwerk »Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien« über die Trobriand-InsulanerInnen, wie komplett anders eine Menschenkultur lebt, welcher eine matriarchalische Gesellschaftsstruktur zugrunde liegt. James DeMeo hat Material von über 1170 Kulturen mithilfe einer Datenbank ausgewertet und eine Weltkarte des menschlichen Verhaltens erstellt und belegt, dass mutterrechtliche Kulturen vor mehr als 6000 Jahren die überwiegenden Gesellschaftsformen darstellten und durchwegs friedfertige, lebensbejahende Völker waren, die in Einklang mit der Natur und den natürlichen Impulsen lebten. Demnach sind es Mechanismen in der Aufrechterhaltung der patriarchalischen Gesellschaftskultur, welche massgebend für die Entfremdung von der menschlichen Natur sind.

Aus seinen Studien gehen die Erkenntnisse hervor, dass

  • ... patriarchale Kulturen in keiner Weise, wie oft fälschlicherweise behauptet wird, die naturgemäßen sind. Das matriarchale Prinzip ist das, an die Natur besser angepasste und natürliche, und somit dem Leben zuträgliche- re.
  • ... Gesellschaften, die Säuglingen und Kindern Traumata und Schmerz zufügen und deren emotionalen und au- ßerdem sexuellen Ausdruck unterdrücken, neurotische, gewaltvolle und selbstzerstörerische Verhaltensweisen hervor bringen.
  • ... Gesellschaften, deren Kinder und Säuglinge nicht traumatisiert oder sexuell unterdrückt werden, sondern liebevolle und körperliche Zuwendung erfahren, ausnahmslos psychisch gesund und gewaltlos sind!
  • ... gehemmte, blockierte Kinder das Resultat patriarchaler sozialer Konditionierung sind, zu der schmerzvolle, lustfeindliche Behandlung gehört, die sich über die Jugend bis zum Erwachsenenalter fortsetzt.

Die patriarchalische Gesellschaftsstruktur hält sich also aufrecht, indem sie Frauen und Kinder und damit natürlich auch die späteren Männer im Ausdruck ihrer Lebenskraft und damit in ihrem Potenzial, sich gegen die Unterdrückung von Autoritäten zu wehren, schwächt. Dies geschieht bereits im Säuglingsalter, wenn schreiende Babys stundenlang liegen gelassen werden, bis sie vor Erschöpfung wegschlafen, wenn Kinder für ihre sexuelle Neugierde bestraft werden, wenn die Sexualität der Frauen, wie noch in unzähligen Kulturen (vor allem im saharasischen Kulturraum), durch die Beschneidung zerstört wird.

 

Unterdrückung von Kraft, Stärke und Leidenschaften zeigen sich heute in den Familien und Schulen in gut beobachtbarer Form: Kinder mit traurigen und erstarrten oder leeren Gesichtern, hängenden Schultern, gebückte oder aufgeblasene Oberkörper, Kinder, die einem nicht in die Augen schauen können, zähneknirschende, zusammengekniffene Münder und Kiefer, heisere erstickte Stimmen, steife, eckige Bewegungen, Füße, die nicht wirklich auf dem Boden zu stehen scheinen.

Viele unserer Kinder leben in einer ständigen Haltung von »sag mir, was ich tun soll!« Wenn Kinder nicht schon mit Sportklubprogrammen und Instrumentalstunden voll terminiert sind, sagt ihnen der Fernseher oder die

x-Box, was läuft. Wenn dann doch einmal Langeweile auftritt, stehen die Eltern mit Vorschlägen parat, um aus der »Not« zu helfen. Ebenso in den Schulstuben: Für die gesamte obligatorische Schulzeit stehen für alle Fächer Lehrpläne bereit, welche übervoll garantieren, dass alle Kinder wissen, was sie zu tun haben. Notabene wissen so ja auch die Lehrkräfte genau was sie zu tun haben. Niemand muss selber denken, was den Vorteil hat, dass auch niemand merkt, dass dies kaum mehr jemand kann. Wenn dann doch einmal eine Situation kreiert wird, an der Kinder aufgefordert werden, eigene Ideen zu haben, sich zu äußern, wozu sie Lust haben, was ihre Meinung ist, stellt man oft fest, dass ihnen die Fantasie abhandengekommen ist und die Kraft fehlt, Dinge in Gang zu bringen und Ideen umzusetzen, um schöpferisch, fantasievoll und kreativ zu sein.

Das höchste Ausmass der Starrheit, Immobilität, der Unterdrückung von Stärke wird dann sichtbar, wenn es ganze Menschenmassen zulassen, dass Einzelne zu ihrem Nachteil über sie bestimmen, auch wenn es sie ins Elend führt (Hitlerdeutschland, Sowjetunion unter Stalin, etc.).

 

Der kurze Exkurs in vergangene Kulturen will zeigen, dass es anders ginge. Unser Problem ist, dass wir nicht wissen, wie wir aus der Reproduktion dieser ungünstigen Prägungen herausfinden können, respektive, dass das Wissen alleine nicht genügt, wenn ihm nicht ein Handeln folgt. Dies zu überwinden ist jedoch eine enorme Herausforderung, denn als Kinder handelten wir nach unseren Impulsen und haben es allzu oft schmerzlich gebüßt. Und zu diesem Schmerz wollen wir nicht mehr. So sind wir gefangen zwischen Angst und Sehnsucht und deshalb so oft handlungsunfähig.

 

Wege zurück zur Selbstliebe und mehr Lebendigkeit

Wenn wir an diesem Punkt nicht das Opfer von 6000 Jahren Patriarchat werden wollen, müssen wir nun also handlungsfähig werden können. Ich sehe dafür zwei Ansatzpunkte: Mich selbst und Gemeinschaften, in denen ich lebe. Es gibt in unserer heutigen Zeit viele Menschen, welche sich einen Kulturwandel zu einer potenzialentfaltenden Gesellschaftskultur wünschen. Oft sind sie alleine, oft wissen sie nicht, was sie tun können und oft sind sie selber durch ihre eigene Biographie zur Handlungsunfähigkeit geprägt. Sie zeichnet aber aus, dass ihre Sehnsucht, nach innerer Freiheit und erfüllenden Beziehungen grösser ist, als die Angst vor Verlust von Anerkennung und Statussymbolen. Die Ueberwindung eigener Prägungen, das Zurückgewinnen der eigenen Potenz und Lebendigkeit gelingt besser im Zusammensein mit anderen Menschen. Denn dann habe ich tausend »Spiegel«, die mir mein Verhalten, meine Ideologien aufzeigen, mich unterstützen können, mutige Schritte zu gehen, mir Rückhalt geben, wenn ich mich alten Ängsten stelle und mich auffangen, wenn ich etwas wage und scheitere oder mit mir feiern, wenn mir oder uns zusammen etwas gelingt. Ich glaube, dass es von besonderer Bedeutung ist, dass solche Gemeinschaften ein Bewusstsein entwickeln zu erkennen, woraus das Denken und Handeln der Einzelnen gründet und was es von den anderen braucht, damit sich der einzelne von seinen Prägungen durch die Unterstützung der Gemeinschaft immer mehr lösen und neue Erfahrungen machen kann. Dadurch kann eine Transformation des Einzelnen und damit auch der Gruppe stattfinden.

 

Wertvoll dafür habe ich die Theorie-U von Otto Scharmer kennengelernt. Scharmer beschreibt Qualitätsstufen in der Kommunikation zwischen Menschen. Im Zustand des »Downloading« finden kollektive Monologe statt. Das heißt, jeder ist mit sich und seinen eigenen Ideen beschäftigt, muss Standpunkte um jeden Preis verteidigen oder ist mit seinen eigenen »Geschichten« beschäftigt, anstatt dem anderen zuzuhören. Wird ein Innehalten - ein Aussteigen aus dem kollektiven Monolog möglich, beginnt das gegenseitige Zuhören (Seeing). In diesem Modus höre ich was mein Gegenüber sagt auf kognitiver Ebene. Erst jedoch, wenn ich nachempfinden kann, was der andere empfindet, wenn er etwas mitteilt, bin ich wirklich mit ihm in Kontakt. Scharmer nennt dieser Art und Weise des Zuhörens »Sensing«. Dieser Wahrnehmungsmodus in Beziehungen ist die Basis für die Ebene des »Presencing«, wo aus einem gemeinsamen »Feld« Neues entstehen kann, das die Möglichkeiten des Einzelnen übersteigt und erst von einer potenzialentfaltenden Gemeinschaft die Rede sein kann.

 

Ein anderes für die Potenzialentfaltung von Gemeinschaften dienliches Modell ist das der Memetik von Claudio Weiss. Sein Modell basiert auf Don Becks Spiraldynamics.

 

Vorab eine Diskussionsrunde als Einstieg aus einem beliebigen Lehrerzimmer in unseren Breitengraden: Frau Huber: »Unsere Schule ist viel zu leistungsorientiert, die Bedürfnisse der Kinder kommen zu kurz und wir gehen einfach nicht auf ihre Individualität ein.« Herr Meyer: »Ich weiß nicht, was diese Diskussion soll, es kann doch nicht sein, dass nun auf einmal die Bedürfnisse jedes einzelnen Kinder maßgebend sein soll, was wir in der Schule tun, dafür haben wir ja unsere Lehrpläne und Schulgesetze, welche klipp und klar vorge- ben, welches die Lernziele sind«. Herr Bühler: »In den vergangenen zwei Jahren haben die Leistungen unserer Schulabgänger deutlich nachgelassen. 20% weniger schafften den Übertritt ins Gymnasium. Ich denke es steht weder an, nun auch noch auf jedes einzelne Bedürfnis der Kinder zu fokussieren und wir müssten uns auch überlegen, ob die verkrusteten Gesetzesstrukturen nicht einfach erfolgsverhindernd sind. Wir sollten beginnen, uns die Erfolgsfaktoren aus Finnland anzuschauen. Die sind ja bekanntlich führend in der PISA-Rangliste.« Frau Merkel: »Meine Meinung ist eine ganz andere: Früher haben wir uns noch auf das Wichtige beschränkt. Damals haben wir den Kinder einfach richtig Schreiben, Lesen und Rechnen beigebracht. Das hat uns schließlich nicht geschadet und uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Wenn wir einfach wieder zu den altbewährten Werten von früher zurückkehren, können wir also nicht falsch liegen«.

 

Wer hat denn nun recht und wie gross ist die Chance, dass sich in diesem Lehrerzimmer eine Potenzialentfaltungsgemeinschaft entwickeln kann?

 

So wie sich die Genetik mit Genen befasst, respektive damit, wie sich genetische Informationen körperlich ausdrücken und weitergegeben werden, befasst sich die Memetik damit, wie sich Bewusstseinsinhalte äußern und weitergegeben oder auch verändert werden. Die einzelnen Bewusstseinsstufen (Meme) sind zur besseren Verbildlichung mit einer Farbgebung versehen.

 

Schwarz:

Das Bewusstsein ist fokussiert auf die Existenz in dieser Welt. Es geht ums kärperliche Überleben. Zu Beginn des Lebens spielt dieses Mem während und nach der Geburt eine grosse Rolle. »Kann ich auch außerhalb des Mutterbauchs überleben?«, könnte die Frage der neugeborenen Babys sein, wenn sie dies denn formulieren könnten. Im Erwachsenenalter ist dieses Mem nur noch selten präsent. Allenfalls dann, wenn ein Mensch unter eine Lawine kommt oder bei einem Arztbesuch eine Krebsdiagnose erhält.

 

Violett:

Beim violetten Mem geht es darum, in einer Gemeinschaft aufgehoben und geborgen zu sein. Traditionen aus der Kindheit, vertraute Rituale aus der Familie bei denen man sich zugehörig und sicher fühlt, spielen eine wichtige Rolle. »So haben wir es immer schon gemacht, das wird auch heute noch gut sein«, sind die violetten Überzeugungen.

 

Rot:

Die nächste Bewusstseinsstufe zeichnet sich durch mehr Autonomie des Einzelnen aus. Sie löst sich von einer fast »zwanghaften« Unterordnung zu Traditionen und Gebräuchen. Die Frage bei »rot« ist: Wie stimmt es für mich. Gewinnen, Recht haben und Siegen-wollen sind Leitgedanken dieses Mems. Die ganze Sportwelt und die Hollywood-Drehb¨ücher sind dort zu Hause.

 

Blau:

Bei »blau« entsteht die Erkenntnis, dass ich mehr erreichen kann, wenn ich nicht mehr als Einzelkämpfer, der auf das Gewinnen und Dominieren von anderen aus ist, unterwegs bin, sondern es effektiver ist, wenn ich mich in eine klar geregelte Struktur einordne, an die sich alle halten. Wenn sich alle an vorgegebene Gesetze halten, erreichen wir zusammen mehr, als wenn ich als Einzelkämpfer unterwegs bin, ist die Überzeugung des blauen Mems. Im Schulwesen ist diese Bewusstseinsstufe weit verbreitet: Allgemeingültige Schulgesetze und Lehrpläne, an die man sich halten muss, klar definierte Notensysteme, an denen es nichts zu rütteln gibt, Klassenregeln, die für alle ausnahmslos gültig sind.

 

Orange:

Das »orange« Bewusstsein hinterfragt die eisernen Gesetze des blauen Mems. Es stellt die Frage, ob es denn nicht effektivere Wege zum Erfolg gibt, ob es beweis-, belegbar ist, was die von oben diktierten Gesetze als erfolgreich vorgeben. Das orange Mem ist experimentierfreudig und auf grösstmöglichen Erfolg aus – alle müssen ins Gymnasium, Hochleistungsgesellschaft, Hochschulwissenschaft, etc.

 

Grün:

Wenn das orange Mem auf Erfolg ohne Rücksicht auf Verluste aus ist, stellt das grüne Mem die Frage, wie es denn dem Einzelnen dabei geht. Es fragt nach Mitmenschlichkeit und stellt die Geschichte, die Befindlichkeit des Einzelnen in den Vordergrund und in Zusammenhang. Hierarchien lehnt es ab, alle sollen zu Wort kom- men und ihre Meinung und ihr Empfinden mitteilen dürfen. Sozialdemokratie, Basisdemokratie, reformpädagogische Schulen sind Ausdruck dieses Bewusstseins. Ablehnung von Leistungsanfoderungen, Strukturen, Egoismus und starren Traditionen, sind ebenso Teil seiner ideologischen Haltung.

 

Gelb:

Das »gelbe« Mem wird auch als integrales Bewusstsein bezeichnet. Als erste Bewusstseinsstufe erkennt es die Qualitäten der vorhergehenden Bewusstseinsstufen. Es erkennt, dass es Situationen gibt, in denen es sinnvoll ist, Leistung zu erbringen (orange), sich an gemeinsame Abmachungen zu halten (blau), damit man auch miteinander etwas umsetzen kann, Traditionen zu pflegen (violett), damit Menschen sich aufgehoben und sicher fühlen, etc. Alle Meme davor, sind fixiert auf ihre Sichtweise und verurteilen mehr oder weniger die anderen. Sowohl als auch, je nach Situation passend, sind »gelbe« Eigenschaften.

 

Weiss:

Weiss fragt nach übergeordneten Zusammenhängen. Nicht nur Win-Win ist gefragt, sonder win-win-win, also nicht nur was ist für dich und für mich gut (grünes Mem), sondern was ist gut für dich, mich und alle anderen, die Umwelt, etc. Spiritualität und höhere Zusammenhänge sind ebenfalls Themen des weissen Mems.

 

Sind Menschen oder ganzen Menschengruppen in solchen mentalen Ideologien »gefangen«, auf sie fixiert, werden sie nicht wertschätzen können, wenn andere Menschen nicht so denken wie sie. Sie müssen Meinungen, Ideen und Empfindungen anderer ablehnen, damit sie ihr memetisches Konstrukt aufrecht erhalten können. Wenn dies passiert, wird es nicht möglich sein, die Kommunikationsform von Scharmers Downloading zu überwinden. Noch einmal der Diskurs aus dem Lehrerzimmer, nun mit der Kennzeichnung der entsprechenden memetischen Haltung: Grün: »Unsere Schule ist viel zu leistungsorientiert, die Bedürfnisse der Kinder kommen zu kurz und wir gehen einfach nicht auf ihre Individualität ein.« Blau: »Ich weiss nicht, was diese Diskussion soll, es kann doch nicht sein, dass nun auf einmal die Bedürfnisse jedes einzelnen Kinder maßgebend sein soll, was wir in der Schule tun, dafür haben wir ja unsere Lehrpläne und Schulgesetze, welche klipp und klar vorgeben, welches die Lernziele sind«. Orange: »In den vergangenen zwei Jahren haben die Leistungen unserer Schulabgänger deutlich nachgelassen. 20% weniger schafften den Übertritt ins Gymnasium. Ich denke es steht weder an nun auch noch auf jedes einzelne Bedürfnis der Kinder zu fokussieren und wir müssten uns auch überlegen, ob die verkrusteten Gesetzesstrukturen nicht einfach erfolgsverhindernd sind. Wir sollten beginnen uns die Erfolgsfaktoren aus Finnland anzuschauen. Die sind ja bekanntlich führend in der PISA-Rangliste.« Violett: »Meine Meinung ist eine ganz andere: Früher haben wir uns noch auf das Wichtige beschränkt. Damals haben wir den Kinder einfach richtig Schreiben, Lesen und Rechnen beigebracht. Das hat uns schließlich nicht geschadet und uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Wenn wir einfach wieder zu den altbewährten Werten von früher zurückkehren, können wir also nicht falsch liegen«.

 

Einer Potenzialentfaltungsgemeinschaft muss es deshalb gelingen, memetisch geprägte Ideologien bewusst zu machen, damit es von einem memetischen Gegeneinander zu einem potenzialentfaltenden Miteinander führen kann.

 

Scharmers Theorie-U und Weiss` Memetik sind zwei Beispiele, welche einer potenzialentfaltenden Gemeinschaft helfen kann, sie auf ihrem gemeinsamen Entwicklungsweg zu unterstützen. Bestimmt gibt es unzählige andere. Ansätze, wie vom eingleisigen Die-einzig-richtige-Antwort-finden, wieder eine Fragen- und Forscherkultur entwickelt oder wie das körperliche Ausdrucksvermögen spielerisch wiederbelebt werden kann, kann ich mir als sehr dienlich vorstellen. Aus meiner Erfahrung heraus, glaube ich, dass der gute Wille der Beteiligten einer Gemeinschaft nicht ausreichen wird, damit sich eine fruchtbare Potenzialentfaltungsgemeinschaft bilden kann. Durch die Prägungen unserer Kindheit in unseren Ursprungsfamilien und während unserer Schullaufbahn, haben wir Schutzmechanismen entwickelt, unseren Schmerz über die zurückgewiesenen Impulse tatkräftig zu handeln, mutig Unbekanntes anzupacken nicht mehr zu spüren. Um sich für diesen Schmerz und damit für die vorschollenen Fähigkeiten wieder zu öffnen, braucht es Mut und ein unterstützendes Umfeld einer Gemeinschaft, das sich über die Herausforderungen ihres Vorhabens und die Ängste der Einzelnen bewusst ist und den aufrichtigen Willen hat, sich gemeinsam einem Wiedererweckungsprozess zu mehr Lebendigkeit, Empathie und würdevoller Beziehungsgestaltung zu stellen. Wenn eine Gemeinschaft es schafft, seinen Mitglieder zu helfen, sich selber wieder als Subjekt zu behandeln, dann werden auch die einzelnen Mitglieder dieser Gemeinschaft in der Lage sein, miteinander eine Potenzialentfaltungskultur zu leben.